Im Gesetz
Freie Fantasie über die Entstehung eines geometrischen Superobjekts
Eines Abends wußte Karl Menger, der sich seit mehreren Monaten
mit einem besonders komplizierten Problem der als Topologie
genannten Wissenschaft befassende Mathematiker, nicht mehr ein
noch aus. Er beschloß, etwas unglücklich hinsichtlich seiner
Gemütslage, seinen Sinn durch Lesen von Erzählungen von Franz
Kafka aufzuheitern. Schon etwas müde, war er nicht allzu
aufmerksam bei der Auswahl der Erzählung und seine Blicke
blieben durch Zufall beim Blättern an der kurzen Geschichte mit
dem Titel Vor dem Gesetz hängen.
Irgendein Mensch bemüht sich hier ins Gesetz hineinzutreten, um die Gerechtigkeit zu
erlangen. Jedoch steht vor dem offenen Tor ein Türhüter, der ihn mit folgenden Worten
davon ablenkt:
Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn.
Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu
Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des
dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.
Der arme Mann findet so nie den Mut hineinzugehen und wartet vor dem Tor bis zum
Tode.
Die Müdigkeit, und vielleicht auch ein sich aus der Stimmung der Erzählung ergebender
Depressionsanfall, verursachten, daß Menger langsam unbemerkt in Halbschlaf verfiel. In
seinen Vorstellungen sah er ein riesiges graues Gebäude von Würfelgestalt, mit einem
großen Tor in der Mitte. Es kam auf ihn zu, und plötzlich begriff er, er geriet vor das
Gesetz. Jedoch vom Türhüter fehlte jede Spur, das Tor stand leer, ähnlich einem in das
graue Gewand des monströsen Würfels hineingeschnittenen Riesenquadrat. Unbeachtet der
Vorwarnung der Erzählung vor den schreckeneinjagenden weiteren Türhütern, trat Karl ins
Tor hinein.
Zu seiner großen Überraschung stellte er fest, daß das Gebäude, das aus der Ferne einen
so massiven Eindruck machte, bei weitem nicht über solch solide Bauweise verfügte, wie
man sich das Gesetz vorstellte. Im Gegenteil, es kam ihm vor, als ob er sich in einem
absurden Kinderbaukasten befände, der nur durch Zufall zusammenhalten könne. Durch
seinen Kopf blitzte eine Idee, wie nur das Gesetz auf so einem spröden und komplizierten
Fundament basieren könne, aber er mußte sich sofort um seine Sicherheit zu kümmern
beginnen. Der Fußboden der großen, sich hinter dem Haupttor erstreckenden Halle enthielt
nämlich viele quadratförmige Öffnungen unterschiedlicher Größen, die auf den ersten
Blick geöffneten Falltüren ähnelten. Die Hierarchie der Öffnungen unterlag einer
Gesetzmäßigkeit, die nicht völlig offensichtlich war, jedoch dem Sterblichen jederlei
Körpergröße den Weg nach vorne ganz sicher erschwerte.
Zum Glück konnte er wahrnehmen, sein Körper entbehre jetzt weder Gewicht noch genau
definierter Dimensionen, er verhielte sich, als ob er aus einem immateriellen, äußerst
elastischen Gummi wäre, imstande, sich in dieser seltsamen Welt problemlos zu bewegen.
Freilich - wie könnte er sonst das genau inmitten der Wand des riesigen Gesetzeswürfels
befindliche Haupttor passieren. Er begann also, sich mal in aller Ruhe mit der Struktur des
seltsamen, das Gesetz darstellenden Gebäudes zu befassen. Er entdeckte, daß aus der
Riesenhaupthalle, deren Ende nicht zu sehen war, kleinere quadratförmige Tore diverser
Abmessungen führen. Auch die Decke durchbohrten Öffnungen, die den Öffnungen im
Fußboden der Halle symmetrisch geordnet zu sein schienen. Menger bog beiläufig in eines
der kleineren Nebentore ab und geriet in einen kleineren Raum, der mit Ausnahme seiner
Abmessungen auffällig der Haupthalle ähnelte. Diesmal beachtet Karl sorgfältiger die
Wände und die Öffnungen in den Wänden. Soweit er zu sehen imstande ist, sind alle
Öffnungen - Tore vom quadratischen Profil und unterscheiden sich durch ihre Größe so,
daß immer die Seite des kleineren Tores ein Drittel des größeren in der Länge beträgt, und
so geht es bis zur Grenze des Unterscheidungsvermögens seines Auges, wobei weitere
Fortsetzung vorauszusehen ist.
Somit kommt es vor, daß jedes Geschöpf, das es versucht, in die Tiefe des Gesetzes
einzudringen, nach bestimmter Zeit der Wanderung durch einander ähnelnde, immer kleiner
werdende Hallen an ein Tor stößt, dessen Größe für ihn nicht mehr ausreichend ist. Karl
erinnerte sich bei dieser Feststellung an die Worte der Bibel über das durch das Nagelöhr
gehende Kamel.
Niemand kann also zum eigentlichen Wesen des Gesetzes gelangen. Die einzigen Formen,
die anscheinend keine Schwierigkeiten dabei hätten, sind die Paragraphen, von denen
jedoch jedes kleine Kind weiß, daß sie biegsam, gar gummiähnlich sind. Im Nu machte er
weitere Beobachtung. Die Tore - oder eher die Pforten - nehmen durch das
Geringerwerden zu. Nach kurzer Überlegung konnte er sogar die Beziehung zwischen der
Größe der Pforten in der Halle und deren Anzahl quantitativ ausdrücken. Karl war ein
wahrlich begabter Mathematiker. Diese neugefundene Eigenschaft des Gesetzes gab ihm zu
verstehen, daß nicht nur die Größe, die letztendlich die Kleinsten am weitesten in die Tiefe
des Gesetzes durchdringen ließe, bestimmend ist. Je tiefer wir hineindringen, desto
komplizierter sind die Pfade und um so mehr Möglichkeiten, vom erwünschten Weg
abzukommen, haben wir.
Im Traum kam ihm eine grauenhafte Idee, daß die Tore des Gesetzes eigentlich keine
Türhüter bräuchten, daß selbst das Gesetz es sei, welch sie behütet. Ja, noch mehr, es
erscheint vor ihm die Wahrheit in ihrem ganzen Wesen. Das Gesetz beinhaltet sämtliche
Wege, die man nur im Sinne haben könnte, auch solche, zu deren Erfindung unsere Fantasie
bei weitem nicht ausreicht. Alles, was wurde, was ist und was irgendwann einmal
ausgedacht wird, ist bereits im Gesetz enthalten. Selbst das, was unterlassen sein wird, ist
hier anwesend.
Menger war kein Gesetzgeber und kein Philosoph, vielleicht ist es schade. Die Welt
konnte sich nach seinem Traumbild anders entwickeln. Man schrieb das Jahr 1926, in
Locarno wurde vor kurzem der ewige Frieden gesichert, und Hitler und Mussolini
unternahmen erste Schritte zur Macht.
Doktor Menger setzte sich nach dem Erwachen hinter den Schreibtisch und begann die
berühmte Abhandlung Über umfassendste n-dimensionale Mengen, die ein wichtiges
Kapitel der Entwicklung der Mathematik abschloß, zu schreiben.
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