Der fünfte Winter des Magnetiseurs Per Olov Enquist
Sprüche
Der eine fragt nur: Was kommt danach?
Der andre fragt nur: Ist es recht?
Und also unterscheidet sich
Der Freie von dem Knecht
(Theodor Storm)
In Per Olov Enquists neu veröffentlichtem Roman „Der fünfte Winter des
Magnetiseurs" (in deutscher Sprache erstmals 1966 erschienen) wird die
Geschichte des Friedrich Meisner erzählt, der als ungewöhnlicher Heiler eines
blinden Mädchens im bayerischen Städtchen Seefond so viele Menschen für
seine Theorien, seine Praktiken, seine Illusionen gewinnen kann, dass die
Frage, welches Ausmaß an Faszination ein Einzelner auslösen kann, sich in
diesem Handlungsstrang als beispielhaftes Leitmotiv entpuppt. Von da an
lassen sich Geschichten, Charakteren, Intentionen, Konstruktionen
erschließen, auch wenn oder vielleicht gerade weil sich in dem entstehenden
Knäuel aus roten Fäden Knoten bilden.
Aus der Ambivalenz des auf den ersten Seiten erzählten und weiterhin
begleitenden Hintergrunds, wie sich ein zu einem erheblichen Teil durch
Täuschung verschaffter Gewinn mit seiner Vergrößerung einer menschlichen
Tragödie oder zumindest der Angst vor derselben nähert, und den variierenden
Wiederholungen des Leitmotivs wächst eine ganz eigentümliche Spannung,
die den Raum um eine undeutliche, auch subjektive Grenze zwischen dem
tatsächlichen Leben und der facettenreichen Menge des Sonstigen füllt.
Indem der 1934 geborene schwedische Autor in dem Protagonisten Friedrich
Meisner Biographisches des Franz Anton Mesmer (1734 - 1815, Befürworter
der Lehre des ‚animalischen Magnetismus') verarbeitet, wird deutlich, dass
sowohl die ursprüngliche Frage nach der Stärke der von einem Individuum
ausgehenden Faszination als auch die Antworten darauf immer schon und
immer wieder einen aktuellen Bezug zur Wirklichkeit haben, gar inmitten des
Lebens überhaupt stehen. Auch darin erklingt der spaltende, teilende,
Spannung verleihende, Knoten hervorrufende Charakter dieses Wirrwarrs aus
roten Fäden.
Daran (Knoten) anknüpfend hat die sorgfältige Vorstellung der Romanfiguren
ihre Bestimmung darin, gleichermaßen in Perspektiven und Welten
aufzuteilen wie zusammen zu führen in eine (Ein)Sicht. Einerseits wenige und
andererseits verschiedene Charakteren, die sich zudem stellenweise auch in
unterschiedlichen Romanformen bewegen, sind wie mehr oder weniger
stützende Säulen, die zusammen halten, was sie allein zum Einsturz bringen
würden. Der Magnetiseur Meisner und der Arzt Selinger, der Vater des
blinden Mädchens, das auf wundersame Weise Sehkraft erhielt, sind aufgrund
ihrer konträren Annäherungen an den Magnetismus, ein konkretes Bild für die
Macht, von dieser grundsätzlich verschiedenen Art, die sich in ‚Faszinieren'
und ‚Fasziniert sein' ausdrückt. Meisner und Steiner, ebenfalls Arzt und
Selingers Freund, sind deutlich auf verschiedenen Seiten der angesprochenen
Grenze. Berührungspunkte zwischen beiden gibt es insofern, dass des einen
Gewinn des anderen Verlust sein muss. Selinger und Steiner hält die
Orientierung an der fassbaren Wissenschaft zusammen, auch wenn die
Intensitäten unterschiedlich ausgeprägt sind. Der Weber ist einer, der in der
Welt des ‚Fasziniert sein' seine Heimat findet, und so Meisner die
Möglichkeiten verschafft, zu faszinieren. Maria, Selingers Tochter, hingegen
erhält Festigkeit in weitaus geringerer Dosierung und nährt so auch die
Unsicherheiten ihres Vaters. Meisners und Steiners Perspektiven werden
folgerichtig eher stereotypisch beschrieben, während Selingers jeweils
gegenwärtige Gemütsverfassung besonders durch die Briefform regelrecht
fühlbar wird. Die Welten, in denen sich Maria und der Weber befinden,
Zweifel und Halt, werden von den jeweiligen Leitfiguren Selinger und
Meisner erzählt bzw. erwähnt.
Auch wenn der Roman „Der fünfte Winter des Magnetiseurs" am Ende doch
ein wenig als ein berechneter Tumult erscheint, ist es Per Olov Enquist
gelungen, ein mehr oder weniger historisches Thema auf eine kunstvolle, auf
eine zentrale Fläche konzentrierende Weise zu verarbeiten, die sich in der
besonders im historischen Roman anzutreffenden Seltenheit, Fiktion und
Wirklichkeit zu einer glaubwürdigen Einheit - hier zu einer hinter
‚Faszination' stehenden Welt - zu verschmelzen, die sich weiterhin auf einer
anderen Ebene in der zusammenführenden Gegenüberstellung plastischer
Darstellungen und Aufzählungen vager Konturen sowie letztlich in dem
Ineinandergreifen der verschiedenen Dimensionen manifestiert. Das Ergebnis
sind wunderbare Bereicherungen, die die neu aufgespürten Zwischentöne in
den alt eingesessenen Zwischenmenschlichkeiten entlocken.
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