Welch ein großartiger Roman! In Philip Roths neuem Roman wird der menschliche Makel regelrecht seziert. Die Präzision, mit der ins Vordergründige gezogen wird, was gerne verhüllt, verschleiert, gestaltlos, ohne Sprache bleiben würde, ist die Schärfe des Skalpells, das einen Leichnam (und nicht nur einen) in seine kleinsten Elemente zerlegt. Mit großer Sorgfalt wird ver-, durch-, auf-, aus-, ab- und angeschnitten. Was uns der 72-jährige Amerikaner Schnitt für Schnitt preisgibt, ist der Versuch einer fachkundig durchgeführten Entblößung.
Es ist nicht einfach die Geschichte des Coleman Silk, des Professors für klassische Literatur am Athena College (im Klappentext nicht sehr treffend als „noble Ostküsten-Universität" bezeichnet), der sich von seiner Hautfarbe, von seiner Herkunft, von seiner Familie, von sich selbst abschneidet und neu erschafft, sich selbst und eine Familie, um in der amerikanischen Gesellschaft den Platz einnehmen zu können, den sein (Alter) Ego sich ausmalt. Diese Lüge, dieses grausame Spiel mit der Schöpfung, begleitet, beschäftigt, quält, und das über den Tod des Schöpfers hinaus, weil sich die Vorzeichen des Geschaffenen auf ganzer Linie umkehren können. Dann wird aus vorgetäuschtem Weiß ein echtes Schwarz. In dem unbestimmten Dazwischen tickt die selbst gebastelte Bombe.
Es ist nicht einfach die Geschichte eines Schwarzen, der sich als Weißer definiert, um dem Durchschnitt nahe zu kommen, und der trotz dieses Anpassungsgeschicks keinerlei Verständnis für eine bei anderen anzutreffende ähnlich geartete Fähigkeit zeigt, als er aufgrund einer unwissentlich unglücklichen Formulierung in einem von ihm durchgeführten Seminar als ein des Rassismus Bezichtigter dem Durchschnitt nahe ist.
Es ist nicht einfach die Geschichte eines alternden Mannes, der seine einer jungen Putzfrau gegebene Zuneigung und Trotz gegenüber allen gesellschaftlichen Konventionen in einen sonderbaren Zusammenhang setzt, von dem nicht einmal klar ist, ob er einen Verschnitt bilden kann.
Es ist nicht einfach die Geschichte der Faunia Farley, die ihr Leben in Scheibchen aufschneidet, weil es nur scheibchenweise verdaut werden kann. Jeden Versuch, sich selbst als Teil der Gesellschaft zu erfassen, Zusammenhänge wahrzunehmen, das Ganze zu betrachten, lehnt sie genauso ab, wie es die Krähe in der Voliere des nahegelegenen Vogelschutzbundes, die sie hin und wieder besucht, auch zu tun scheint.
Es ist nicht einfach die Geschichte des Les Farley, des für den Vietnam-Krieg Ausgeschnittenen, der zurück in sein kaum mehr existierendes Loch geklebt werden soll.
Es ist nicht einfach die Geschichte der Delphine Roux, die in ihrem zweiten großen Lebensabschnitt als Fachbereichsleiterin am Athena College einen Höhepunkt erreicht und dabei die weite Entfernung zu ihrem von der Berühmtheit der Mutter überschatteten Dasein in der französischen Heimat, zu ihrem erstickten Selbstbewusstsein in doppelter Hinsicht erfährt: genugtuend, als sie ihre ureigenen Leistungen Revue passieren lässt, und abgrundtief fallend, als sie ihre gut verborgenen Sehnsüchte versehentlich anschneidet.
Nein! Der menschliche Makel wird auf so vielfältige Weise epiphaniert, dass es am Ende der Lektüre unmöglich ist, auf die Idee zu kommen, er könnte nur in Einzelschicksalen zu finden sein oder gar auf einfache Weise ausgemacht werden. Alles Geschaffte, so eindrucksvoll es auch sein mag, kann sich im Bruchteil einer Sekunde in nichts auflösen. Und sowohl das Schaffen als auch die Auflösung kreisen um den menschlichen Makel und kreisen selbst, ablenkend, die Nacktheit verbergend, Sicherheiten verhindernd. Es gibt nicht die Sicherheit, einst erhaltene, ehrlich erarbeitete Lorbeeren behalten zu dürfen, nicht die Sicherheit, ein massiv gebautes Lügengebäude dem Einsturz fern halten zu können, und so weiter. Fehlende Sicherheiten sind genauso wenig aufzuzählen wie Flecken auf der Haut. Der Mensch, die Krone der Schöpfung, kann seinen Makel nicht kennen (wollen), sich ihm zu entziehen wird ihm jedoch nie gelingen. Im Gegenteil, der Makel haftet noch mehr an ihm wie seine Individualität (oder wie die besagten Flecken auf seiner Haut). Ver-, durch-, auf-, aus-, ab- und angeschnitten werden Gesellschaft und Lüge, immer wieder und wieder. Und der menschliche Makel befindet sich inmitten und jenseits der nie endenden Schnitte.
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