Die Schnitzerin
Wie so oft spazierte sie ihren dunklen Lieblingsweg durch den Wald. Hier hatte sie Ruhe, hier
konnte sie sich ganz ihren Gedanken hingeben. Warum bekam sie kein Kind? An ihr lag es nicht,
laut Frauenarzt. Sein Arzt stellte auch bei ihm nichts fest. Hatte sie früher noch viele andere Dinge
zum Denken, wurde sie inzwischen nur vom Kindergedanken beherrscht. Eine Lichtung war ihr
Rastplatz. Der mächtige alte Baumstumpf wartete schon auf sie. lud sie zum Sitzen ein.
Ihr Blick fiel auf ein dickes Stück Bruchholz, direkt neben dem Stumpf liegend. War es ein Teil des
Baumstumpfes? Sie betrachtete sich das Holzstück. War es ein Kind vom alten Stumpf? Plötzlich
wußte sie es. Es war ihr Kind. Nur mußte es noch geboren werden, also hatte sie neun Monate Zeit.
Sie schleppte das schwere Stück ins Haus. In den Keller. Sagen würde sie ihm noch nichts. Die
Überraschung sollte eine Besondere sein. Kaum war er am Morgen aus dem Haus, verschwand sie
im Keller. Nahm ein Messer und schnitzte ihr Kind. Ein wunderbares Kind wird es sein. Ein kluges
Kind. Ein schönes Kind.
Ihr Kind war fertig. Sie hatte geboren.
Er kam des Abends ins Haus. Fand sie und einen Holzstamm im Arm. Glücklich sah sie ihn an.
Gratulierte ihm zur Vaterschaft. Das Holz trug hellblau.
Der Junge war wunderbar. Der Junge war klug. Der Junge war schön. Für und mit ihm lebte sie.
Sollte er als Einzelkind aufwachsen? Niemals. Sie ging in den Wald, ließ sich erneut schwängern.
Verbrachte mit ihrem Sohn ihre freie Zeit im Keller. Neun Monate. Sie vermaß ihren Sohn. Arme,
Beine, Nase, die winzigsten Dinge. Es sollte genau solch ein wunderbares Kind entstehen. Es gelang
ihr. Das Holz trug hellblau.
Es machte ihr nichts aus, als ihr Mann sie verließ. Sie hatte die Kinder.
Sie bemerkte erstaunliche Veränderungen an sich. Ihr war des Morgens übel, sie wurde dicker. Ihr
Frauenarzt gratulierte ihr. Sie wußte, es wurde wieder ein wunderbares Kind. Nur wuchs es von
allein. Sie konnte nichts dazu tun.
Sie saß im Keller, hatte geboren. Es war kein Junge. Es schrie, war feuerrot, nicht wunderschön. Sie
vermaß das Kind. Arm-, Bein- und Nasenlänge waren nicht die gleiche. Langsam ging sie zum
Schrank, holte das Messer. Sagte leise: "Es macht nichts, ich werde es umschnitzen".
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