Manches Monster war ein Mammut
Worauf viele Riesensagen beruhen / Von Goliath bis Rübezahl Ernst Probst, Im See 11, 55246, Mainz-Kostheim
Goliath, Polyphem, Rübezahl, Christophorus und andere Riesengestalten
geistern durch die Sagenwelt. Alle Völker dieser Erde kennen solche
Wesen von unglaublicher Größe mit übermenschlichen Kräften. Einmal
gelten sie als wahre Tölpel, die nur rohe Kraft walten lassen, dann
wieder sind sie Helden oder sogar Schöpfer der Welt. Der Mainzer Autor
Ernst Probst hat sich im Reich der Riesen umgesehen.
*
"David rannte auf den Philister zu, schwang seine Schleuder und ließ
Goliath einen Stein gegen die Stirn fliegen, die der Helm nicht
bedeckte. Goliath stürzte und fiel aufs Gesicht. Auf diesen Moment
hatte David gewartet. Er lief zu seinem niedergestreckten Feind, zog
dessen Schwert und schlug ihm den Kopf ab."
Diese Geschichte aus dem Alten Testament ist nur eine der vielen
Erzählungen darüber, wie ein normal gewachsener Mann einen Riesen mit
List bezwingen konnte. Goliath erreichte angeblich dreieinhalb Meter
Höhe, und sein Panzerhemd soll sage und schreibe 104 Kilogramm gewogen
haben. Welch großer Held muss also der kleine David gewesen sein, der
einst jenen furchterregenden Krieger zu Boden streckte?
Riesen verkörperten über Jahrtausende das Bild des mächtigen und
kraftvollen "Supermannes". Nicht wenige Kulturen schrieben ihnen die
Erschaffung der Erde zu, denn "primitive Völker" konnten sich nicht
vorstellen, dass jemand anders als Riesen gigantische Ozeane, Gebirge
und Schluchten mit ihren Händen zu formen vermochten. Auch verheerende
Stürme und wolkenbruchartige Regenfälle wurden als das Werk göttlicher
Riesen gedeutet, die an ihre Macht erinnern wollten.
Rübezahl und Tännchel
Der englische Volksmund etwa kennt viele phantasievolle Erzählungen
über die Entstehung von Hügeln, Tälern und anderen Landschaftsformen
durch Riesenhand. So sollen Riesen oft Erdhügel umhergeworfen oder
gewaltige Felsbrocken ins Meer geschleudert haben. Die Angelsachsen
erwähnen in ihren Gedichten häufig Riesen, die vor ihrer Ankunft in
England existiert haben sollen. Sie konnten es sich nicht vorstellen,
dass die von den Römern errichteten Bauwerke - wie Tempel, Festungen
und Aquadukte - von Menschen geschaffen wurden.
Auch die Deutschen hatten ihre Riesen. Man denke nur an den Berggeist
Rübezahl des Riesengebirges, der nach der Sage in vielerlei Gestalt
den Wanderern half und sich an Spöttern rächte. Oder an die vielen
Riesen, die in Rheinsagen eine Rolle spielten. So soll ein Riese
namens Tännchel die Felsen gesprengt haben, die das Wasser des Rheins
zwischen Schwarzwald und Vogesen aufstauten. Und den letzten Riesen
aus dem Odenwald hat angeblich Kaiser Maximilian höchstpersönlich bei
einem mittelalterlichen Turnier in Worms am Rhein besiegt.
Ungeschlachte Tölpel
Im Schwank erwiesen sich Riesen oft als ungeschlachte Tölpel, die auf
vielfältige Weise überlistet wurden. Offenbar benutzten Menschen die
Riesenlegenden gern zur Erklärung vieler Naturphänomene und um ein
unbewußtes Verlangen nach übermenschlicher Fähigkeit auszudrücken.
Nachdem unsere Vorfahren diese scheußlichen Ungeheuer ersonnen hatten,
fanden sie stets auch Mittel und Wege sie durch Klugheit und allerlei
Listen zu besiegen.
Die Gestalt der Riesen ist wahrscheinlich aus vielerlei urtümlichen
Vorstellungsbereichen erwachsen: aufgrund existierender stark
unterschiedlicher Größenverhältnisse, wegen der Deutung
außerordentlicher Naturerscheinungen als Wirkung überstarker Wesen,
durch Proportionsphantasie (der unterlegene Gegner muss aus Gründen
des Effekts zu übermenschlichen Proportionen gesteigert werden, solche
Vorstellungen spielten bei Drachensagen eine Rolle), vielleicht aber
auch durch Halluzinationen im Rauschzustand.
50 Köpfe und 100 Arme
Wie dem auch sei - Vorstellungen von riesigen Wesen finden sich seit
ältester Zeit und überall auf der Erde. Die Griechen der Antike sahen
in den Giganten, Titanen, Zyklopen und Hekatoncheiren die Naturkräfte
verkörpert. Letztere besaßen angeblich jeweils 50 Köpfe und 100 Arme.
Das Alte Testament nennt außer dem bereits erwähnten Goliath die
Enakiter und Amoriter als Riesen. Bei den Germanen waren die Riesen
vor allem die Gegner der Götter. Obwohl in den schwankhaft gefärbten
Thors-Mythen der Gott immer die Riesen besiegte, vernichteten diese im
Endkampf die Welt der Götter und gingen dabei selbst zu Grunde.
Nach der norwegischen Mythologie soll die erste lebende Kreatur der
Riese Ymir gewesen sein. Von ihm stammen - so heißt es - sowohl die
heutige menschliche Rasse als auch eine Riesenrasse ab. Die Indianer
im Nordwesten der USA kennen Legenden über urzeitliche Riesen, die
Menschen fraßen. In manchen Schilderungen besaßen die monströsen
Gestalten sogar tierische Körperteile wie Füße aus Giftschlangen oder
geschuppte Drachenschwänze.
Von Menschen besiegt
Immer wieder aber besiegten Menschen einen Riesen. So berichtet eine
englische Legende, daß eine auf der Insel lebende Riesenrasse von
Brutus vernichtet worden ist. Brutus - nicht identitsch mit dem
römischen Brutus - soll der Gründer des britischen Volkes gewesen
sein. Die beiden letzten Riesen, Gog und Magog, wurden der Sage nach
zu der gerade erst erbauten Stadt London gebracht, wo sie die Pforten
des königlichen Palastes bewachen mußten.
In Japan wiederum vernichtete der heldenhafte Raiko mit treuergebenen
Soldaten eine ganze Riesenbande, die in den Bergen angeblich Frauen
angriff und deren Blut trank. Raikos Trick: Er ging mit seinen
Soldaten als Affen verkleidet und bot ihnen einen Zaubertrunk an, der
die Kerle schwächte.
Fehlgedeutete Tierfossilien
Die Riesenlegenden wurden früher vielfach durch Funde beeindruckender
Tierfossilien in Höhlen oder Flußbetten genährt. So deutete man
Mammutüberreste in einigen Höhlen Siziliens als Knochen von Riesen.
Große Knochen, die man in Flußbetten entdeckte, schrieb man mit
Vorliebe dem heiligen Christophorus zu, der laut Legende das
Christkind mitsamt Erdkugel auf seinen Schultern durch einen Fluß
trug.
Schädelfunde ausgestorbener Zwergelefanten auf griechischen
Mittelmeerinseln ließen die Sage von einäugigen Zyklopen (zu deutsch:
"Rundauge") entstehen. Die Schädel hatten nämlich dort, wo der Rüssel
ansetzt, ein großes Loch, das man für die Augenöffnung auf der Stirn
eines Riesen hielt. Mit einem Zyklopen namens Polyphem hatte Odysseus,
der König von Ithaka, seine liebe Mühe, bis er ihn schließlich
überlisten und blenden konnte.
Fossilien von Wald- oder Steppenelefanten und Mammuten, die in
bestimmten Abschnitten des Eiszeitalters von etwa 2,3 Millionen bis
10000 Jahren in Mitteleuropa lebten, wurden noch vor wenigen
Jahrhunderten fälschlicherweise als Reste von Riesen gedeutet. Längst
war in Vergessenheit geraten, daß Urmenschen solche Rüsseltiere
gekannt und sogar gejagt haben. Die berühmten Bilderhöhlen in
Frankreich und Spanien mit Mammutmotiven sind später entdeckt worden.
Riesen am Rhein
An den "Oberschenkel eines Riesen von wundersamer Größe", der einst am
Rheinufer von Oppenheim bei Mainz zum Vorschein kam, erinnert ein
großes Gemälde des Berner Malers Bartholmäus Sarburgh im Historischen
Museum Bern. Dieser 1,27 Meter lange Knochen wurde um 1613 im
Oppenheimer Wirtshaus ,"Zum Riesen" aufbewahrt und von einheimischen
sowie auswärtigen Gästen bewundert. Ein vermeintlicher Riesenknochen
von gleicher Größe befand sich damals auch im Besitz eines Oppenheimer
Adeligen sowie in einem Speisesaal im badischen Ettlingen nahe
Durlach. Außerdem hingen zu jener Zeit in einigen öffentlichen
Gebäuden von Worms imposante "Riesenknochen".
Eine Zusammenstellung der berühmtesten Riesen wurde 1678 von dem
Jesuitenpater und Professor für Mathematik, Philosophie und
orientalische Sprachen, Athanasius Kircher, der in Würzburg und Worms
wirkte, in seinem Werk "Mundus subterraneus" ("Unterirdische Welt")
veröffentlicht. Im Vordergrund einer darin gezeigten Abbildung steht
der zehn Meter hohe "Sizilianische Riese" dessen Reste im 14.
Jahrhundert in einer Höhle bei Trapani auf Sizilien geborgen wurden.
Der italienische Dichter Gioivanni Boccaccio schrieb diese Funde dem
aus der Odysseus-Sage bekannten Riesen Polyphem zu. Dem sizilianischen
"Rekordhalter" folgte auf Platz 2 der Riese "Gigas Mauritaniae".
Als drittgrößten Riesen erwähnte Kircher den "Luzerner Riesen"
("Gigas"), dessen vermeintliche Reste 1577 bei Reiden nahe des
Vierwaldstätter Sees nach einem Sturm unter einer gefällten Eiche zum
Vorschein gekommen waren. Der Basler Arzt Felix Platter errechnete
eine Körperlänge von 19 Fuß (also mehr als fünf Meter) für diesen
Riesen. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurden von einem Anatomen die
noch vorhandenen Knochenreste eindeutig als die eines Mammuts
identifiziert. Platz 4 in der Rangliste damaliger Riesen nahm der
biblische Goliath ein.
Der Fund aus Krems
Um Mammutknochen und einen Mammutzahn handelte es sich auch bei den
vermeintlichen Resten des "Kremser Riesen" aus Niederösterreich, die
1645 auf dem "Hundssteig" in Krems an der Donau von schwedischen
Soldaten beim Ausheben von Schanzwerken zutage gefördert wurden.
Matthäus Merian der Ältere hat 1647 im fünften Band seines Werkes
"Theatrum Europaeum" den "Kremser Riesenzahn" abgebildet.
Fast jedes Land hatte früher seinen Nationalriesen, der meistens auf
Funde von eiszeitlichen Rüsseltierknochen zurückging, deren wahre
Natur man nicht erkannte. Auf solchen Irrtümern beruhen auch die Sagen
über Drachen und Einhörner. Man sollte diese Fehleinschätzungen nicht
zu sehr belächeln, denn selbst heute noch spekulieren der
schweizerische Bestsellerautor Erich von Däniken und einige andere
Phantasten über die einstige Existenz von Riesen.
*
Ernst Probst ist Autor der Bücher "Deutschland in der Urzeit",
"Deutschland in der Steinzeit" und "Deutschland in der Bronzezeit",
die im Oktober im Orbis Verlag erschienen und jeweils 49,95 DM kosten.
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