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Kerstin Dirks

Die Sturmjahre der Lilie – Im Schatten der französischen Revolution (Textauszug)

... Nicolas und die anderen waren inzwischen zu ihrem Treffpunkt zurückgekehrt und beobachteten mit Entsetzen wie Annabelle mit dem jungen Grafen im Schlepptau den Stall betrat. Als die Kinder Jean-Christoph erblickten, wichen sie vor ihm zurück und pressten sich gegen die Stallwände.
Angst lag in der Luft. Jean-Christoph sah es an ihren aufgerissenen, panischen Augen und den nervös zuckenden Pupillen. Er roch den Schweiß, der aus ihren Poren ran und sich in Form von kleinen Tropfen auf ihrer Stirn ausbreitete. Doch das war nicht alles. Er spürte auch den Hass und die Verachtung, die sie ihm fortwährend entgegen brachten.
Eine seltsame Mischung aus Trauer und Verzweiflung befiel ihn. Trauer, weil er nicht gefürchtet werden wollte. Weil ihm durch ihre Furcht immer wieder aufs Neue bewusst wurde, dass er anders war. Aber anders wollte er nicht sein, er wollte sein wie sie, ein ganz normales Kind. Die Verzweiflung zerfraß ihn, weil er nicht wusste, wie er es ihnen hätte erklären sollen und weil es keinen Ausweg aus dieser Misere zu geben schien. Er wäre am liebsten fortgelaufen, um ihre verängstigten Fratzen nicht mehr sehen zu müssen, doch Annabelle griff ihn bei der Hand und ging mit ihm, von dem Spektakel unbeeindruckt, auf Nicolas zu.
„Was soll das, Annabelle? Warum schleppst du den an?", zischte Nicolas von oben durch die Zähne. Er war auf einen Holzbalken geklettert und guckte nun auf die beiden herab.
„Ihr braucht keine Angst vor ihm zu haben", versuchte Annabelle die anderen zu beruhigen. Doch die Kinder schenkten ihr keinen Glauben. Romain und Fabien hatten sich inzwischen hinter dem Sattelschrank versteckt und lugten ängstlich an der Seite hervor. Mathieu hockte hinter einem Futtersack, während Pascal bemüht war, seinem Freund Nicolas Gesellschaft zu leisten. Er stand auf einem der Holzzäune, die als Begrenzungen zwischen den einzelnen Pferdeboxen dienten, und war dabei, sich ebenfalls auf einen der Balken zu schwingen.
„Verschwinde, du Besessener, wir wollen dich hier nicht!", schrie Nicolas, dem scheinbar gar nicht auffiel, wie ungeziemend er sich dem Sohn des Schlossherrn gegenüber verhielt. Nicolas hatte noch nie sonderlich viel von Etiketten gehalten und Respekt war für ihn ein Fremdwort. Er schien es sogar zu genießen, den jungen Grafen beschimpfen und somit seine Überlegenheit demonstrieren zu können.
„Ja, er soll bloß abhauen, bevor er uns noch alle verhext", erklang eine ängstliche Stimme hinter dem Sattelschrank.
Die Situation war beklemmend. Annabelle sah unsicher zu Jean-Christoph herüber, dessen Gesicht ungewöhnlich verzerrt wirkte und sie glauben ließ, dass er jede Sekunde in Tränen ausbrechen würde. Doch das tat er nicht.
„Komm Annabelle, lass uns gehen", flüsterte er ihr zu.
„Hört euch das an! Der Kerl kann ja doch sprechen! Wer hätte das gedacht? Hey, bleib stehen du kleines Ungeheuer ... na warte, dir werde ich's zeigen!"
Nicolas nahm eine Steinschleuder aus seiner Hosentasche und zielte damit auf den Grafen. Er zog das Band soweit wie möglich nach hinten und ließ es abrupt los. Kurz darauf schoss ein kleiner, runder Stein durch die Luft.
Ein lautes „Aua!", hallte plötzlich durch den Stall. Fast zeitgleich stiegen Annabelle Tränen in die Augen. Ihre Wange glühte und färbte sich an der Stelle rot, an der sie der Stein getroffen hatte. Nicolas hatte statt des Grafen versehentlich das kleine Mädchen erwischt. Abrupt blieb Jean-Christoph stehen und starrte entsetzt zu Annabelle, die sich das schmerzende Gesicht hielt. Unglaubliche Wut stieg in dem kleinen Grafen hoch. Nicolas hatte es gewagt seiner Freundin weh zu tun! Er hatte ihr weh getan, nur um ihn - Jean-Christoph - damit zu strafen. Der kleine Graf atmete tief durch und drehte sich betont langsam zu Nicolas herum. Etwas Unheimliches ging von dem zierlichen Jungen aus, der seinen kalten Blick nach oben auf den Balken richtete. Doch Nicolas ließ sich davon nicht beeindrucken und suchte in seiner Tasche nach einem weiteren Stein, nur fand er keinen. Dies versetzte ihn in Rage. So tief er auch in seinen Hosentaschen bohrte, da war nichts, außer gähnender Leere. Zu gern hätte er sich an dem erschrockenen Gesichtsausdruck dieses kleinen Ungeheuers gelabt, wenn der Stein seinen vermaledeiten Schädel getroffen und ihm die Haut aufgeschabt hätte ... wenn Nicolas doch nur einen Stein zur Verfügung gehabt hätte ...
Was hätte er dafür gegeben, den jungen Grafen weinen und den Schmerz in seinen Augen aufpeitschen sehen zu dürfen.
„Glaubst du, du kannst mir mit deinem irren Blick Angst machen?", fragte er den Grafen spöttisch und stieß ein schrilles „Pah!" aus. „Reiz ihn nicht!", flehte Pascal, der noch immer auf dem Zaun stand und sich an einer großen Holzsäule festhielt.
Nicolas lachte verächtlich. Was sollte der Verrückte schon tun? Hier oben, auf seinem Balken, war er sicher, davon war er fest überzeugt.
„Fang mich doch, wenn du kannst. Du Kranker!"
„Nicolas, hör auf damit", jammerte Annabelle, deren Schmerz im Gesicht bereits nachgelassen hatte.
Nicolas warf ihr einen giftigen Blick zu: „Warum verteidigst du diesen Besessenen?"
Vielleicht hatte der Graf Annabelle verhext, schoss es Nicolas durch den Kopf. Oder aber ... sie war ebenfalls vom Teufel besessen! Das musste es sein. Deswegen hielt sie auch zu ihm.
„Annabelle ist vom Teufel besessen!", schrie der hysterische Junge seine neugewonnene Erkenntnis laut hinaus. Vielleicht konnte er so nicht nur den Grafen, sondern auch die kleine Verräterin demütigen?
Annabelle fuhr erschrocken zusammen. Ihr Ansehen sah sie dahinschwinden. Das, wofür sie so lange hatte kämpfen müssen, sollte ihr binnen von Sekunden genommen werden? Die wohlverdiente und ihr zustehende Anerkennung der anderen? In diesem Augenblick hasste sie Nicolas. Sie hasste ihn dafür, dass er solch eine ungeheuerliche Lüge über sie verbreitete und sie auf solch niederträchtige Weise vor den anderen bloßstellte. Doch nicht nur ihm galt ihr Hass. Ebenso war Jean-Christoph Schuld an dieser Misere. Sie wünschte sie hätte ihn nie getroffen. Mehr noch, sie wünschte sie wäre nie hier her gezogen. Hier waren doch ausnahmslos alle verrückt!
Warme, weiche Nüstern rissen Annabelle plötzlich aus den Gedanken. Chadier stupste seinen großen Kopf gegen ihren Rücken, als wolle er sie bitten, ihm das Zaumzeug und den Sattel abzunehmen. Mürrisch griff sie das Pferd bei den Zügeln und führte es in seine Box zurück, um es dort zu versorgen und von seinem Reitsitz zu befreien. Sollten sich diese Hitzköpfe doch weiter die Schädel einschlagen, nur sollten sie Annabelle aus ihren Zankereien herauslassen!
Jean-Christoph starrte unterdessen wie gebannt nach oben zu dem Jungen, der noch immer schrill lachte und wie wild auf dem Balken herum wippte. Der Balken bog sich, so sehr wurde er von Nicolas belastet. Mit einem Mal knackte es unter seinem Gesäß, so dass der Junge augenblicklich verstummte. Ein weiteres Ächzen ließ erahnen, dass der Balken jede Sekunde zusammenbrechen würde. Ungläubig guckte Nicolas auf den jungen Grafen herab, dessen Blick noch immer starr war. Seine Augen wirkten riesig, sie waren aufgerissen und schienen einen Hauch zu weit auseinander zu stehen.
Als der Graf den Blick abwendete, brach der Balken entzwei und Nicolas stürzte nach unten. Der Junge schlug unsanft mit dem Rücken auf dem Boden auf, so dass sich die Luft aus seinen Lungen presste und er nach Atem ringen musste. Seltsam röchelnde Laute entflossen seiner Kehle und sein Gesicht nahm eine bläuliche Färbung an. Die Kinder waren vor Angst wie erstarrt. Pascal hätte vor Schreck beinah das Gleichgewicht auf seinem Holzzaun verloren und sogar Annabelle war an die äußerste Wand der Stallbox zurückgewichen.
Den Kindern war klar, dass er dies verursacht hatte. Nur er war zu solcherlei Teufelswerk fähig.
Jean-Christoph fühlte sich plötzlich von allen beobachtet. Ihre angsterfüllten Blicke drohten ihn zu durchbohren und tief in seine Seele hinein zu schauen. Er ertrug den Anblick ihrer furchtsam geweiteten Augen nicht länger. Er wollte gehen, bloß schnell fort von hier, doch nicht ohne Annabelle. Sie musste zu ihm halten und mit ihm gehen, damit er in dieser schrecklichen Situation nicht allein war. Also winkte er das kleine Mädchen zu sich herüber. Sie zögerte kurz, kam dann aber auf ihn zu und sah ihn unsicher an.
„Komm", sagte er schlicht und deutete in Richtung Ausgang. Doch Annabelle schüttelte den Kopf und blieb stehen.
Fassungslos blickte Jean-Christoph in ihre Augen, fürchtete sie ihn nun auch? Sah er dort nicht einen Funken Furcht aufblitzen? Das kleine Mädchen konnte dem Blick des Jungen nicht standhalten und wandte sich mit einer abrupten Bewegung von ihm ab. Jean-Christoph wollte so vieles sagen, ihr alles erklären, doch er wusste dies hätte keinen Sinn gehabt, nicht hier und jetzt, in diesem Augenblick. Wenn er sie nicht als Freundin verlieren wollte, musste er ihr die Zeit geben, dass so eben Erlebte zu verarbeiten. Mochte es ihm noch so schwer fallen und ihn ihr Misstrauen in seinem tiefsten Innern schmerzen. Mit hängendem Kopf verließ er den Stall und machte sich auf den Weg zurück in den finsteren, einsamen, von der Welt abgeschotteten Westturm - seinem zu Hause.

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